Bandoneon für Tastenspieler – gibt’s das? (1)
Das Akkordeon mit dem Doble A
Wenn wir auf dem Akkordeon Tango spielen, benutzen wir meistens das so genannte „Bandonion“-Register, also das tiefe Oktav-Register (). Vorbild dieses Klanges ist das Tango-Bandoneon, und dieses Instrument hat eine Poesie, Prägnanz und Durchsichtigkeit im Klang, an die das Akkordeon nicht heranreicht. Das Bandoneon aber, mit der unwegsamen Griffweise seiner Knöpfe, ist nicht gerade leicht zu spielen und zu lernen. Wahrscheinlich haben sich schon manche Tastenspieler, die den Tango lieben, die Frage gestellt: Kann man nicht einfach ein Bandoneon mit Tasten bauen?
Unterschiede
Akkordeon und Bandoneon – sind diese beiden Instrumente denn wirklich so verschieden? Schließlich haben beide Instrumente Stimmzungen, und beide haben einen Luftbalg. Anfänger oder Nicht-Musiker, die die Instrumente in einer CD-Aufnahme hören, bemerken den Unterschied kaum. Aber der Akkordeonklang – mit dem Oktavregister gespielt – ist robuster und gleichmäßiger; der Bandonionklang dagegen ist schlanker, durchsichtiger, verletzlicher, und kann unter den Fingern eines einfühlsamen Spielers eine sehr ausdrucksvolle Seelensprache entwickeln.
Was genau macht den Unterschied aus zwischen diesen beiden Instrumenten? Auf das Innenleben kommen wir später. Aber schon äußerlich ist alles anders: Der Bandoneon-Balg ist schmaler im Profil, aber viel länger, das Instrument wird nicht vor den Körper geschnallt, sondern auf den Schoß (oder übers Knie) gelegt (siehe Bild 1), und vor allem: Knöpfe auf beiden Stirnseiten des Instrumentes! Und diese Knöpfe haben es – leider – in sich.
Die vier Griffpläne
Entwickelt wurde das Bandoneon aus der sächsischen Konzertina. Auf der spielte man – im Wechsel von Zug und Druck – volkstümliche Weisen, überwiegend in einer einzigen Tonart („diatonisch“ und „wechseltönig“). Um 1840 erfand der Krefelder Musikalienhändler Heinrich Band eine neue Knopfbelegung, durch die das Instrument voll chromatisch spielbar war, und nannte diese Konzertina „Bandonion“. So weit, so gut. Ärgerlich war nur: so entstand ein Griffplan, dessen Töne ohne jede innere Logik angeordnet sind. Schlimmer noch: nicht ein Griffplan – sondern letztlich vier Griffpläne, völlig verschieden zwischen rechts und links, völlig verschieden zwischen Zug und Druck, ohne jede Logik und ohne logischen Bezug des einen Plans zum anderen. So chaotisch und systemlos ist der vierfache Griffplan des Bandoneons bis heute geblieben. Wer das Bandoneonspiel erlernt, der merkt, dass sich die meisten Läufe und Akkorde trotz der Systemlosigkeit überraschend gut und rund in die Hand legen. Aber vielen Spielern erscheint es schrecklich langwierig, mit diesem Instrument vertraut zu werden. Wie der Bandoneonist Mosalini sagte: „Wer Bandoneon spielt, muss sein Gehirn durch vier teilen!“
Versuche der Verbesserung
Darum gab es im 20. Jahrhundert verschiedene Versuche, ein Bandoneon zu konstruieren, dessen Griffweise leichter zu verstehen und zu lernen ist. Eher eine Rarität geblieben ist das Kusserow-Bandoneon, dessen Knöpfe gleichtönig in Zug und Druck sind. Der Musette-Virtuose Péguri entwickelte schon vor dem 2. Weltkrieg eine (ebenfalls gleichtönige) Knopfbelegung, die der Diskantseite des chromatischen Knopfakkordeons (C-Griff) nachgebildet ist. Bandoneons mit diesem „Péguri-System“ werden heute von mehreren Herstellern angeboten. Der Vorteil: Schnell erlernbar, zumal für Spieler, die mit dem chromatischen Knopfakkordeon bereits vertraut waren. Der Nachteil: Viele Läufe, die nach dem herkömmlichen Bandoneon-Griffplan regellos, aber überraschend bequem und rund zu greifen sind, fingern sich im Péguri-System zwar logisch, aber keineswegs besonders ergonomisch an der Vorderkante des Grifffeldes.
Eine überraschende Lösung entwickelte um 1990 der belgische Harmonika-Bauer Harry Geuns. Um eine bessere Griff-Ergonomie zu schaffen, verlegte er in seinem „Hybrid-Bandoneon“ die Knöpfe von den Stirnseiten des Instruments an die – dem Publikum zugewandten – Außenkanten. Der fränkische Tangomusiker Norbert Gabla spielt ein solches Instrument (Bild 2).
Da wird also bis in die Gegenwart nach Lösungen gesucht. Warum denn dann nicht – fragt sich der Tastenspieler – eine ganz einfache Lösung: Warum nicht das ganze Bandoneon in ein Akkordeon-Gehäuse mit Tasten packen?
Warum nicht einfach Bandoneon-Stimmzungen ins Akkordeon packen?
Die überraschende Antwort: das gibt es längst! Der legendäre Bandoneonbauer Alfred Arnold hat ein solches Instrument schon um 1930 gebaut. Um dieses rätselhafte Instrument näher anzusehen, fuhren wir also in die Gemeinde Carlsfeld am Rande des erzgebirgischen Musikwinkels, zum Instrumentenbauer Robert Wallschläger.
Bevor wir dann dort das ehrwürdige Instrument aus dem Museumsschrank holten, zeigte Wallschläger uns erst einmal gründlich die Bauweise des Bandoneons im Vergleich zum Akkordeon.
Machen die Stimmzungen den Klangunterschied aus? Nur geringfügig. Die Stimmzungen des Bandoneons haben eine andere Mensur, sind aber – genau wie beim Akkordeon – aus Federstahl. (Früher hatte man Messingzungen genommen, die einen weichen, warmen Klang ergaben, aber schneller müde wurden.)
Aber der ganze Aufbau des Instrumentes ist anders. Unter der äußeren Deckplatte des Instrumentes: Holz, Holz, Holz. Wo beim Akkordeon ein Metallgestänge die Tasten mit den Ventilklappen verbindet (Bild 3), sind es hier verblüffend zarte Holzstäbchen. (Bild 4)
Auf der Innenseite – hinter dem Balg verborgen – zeigen die Stimmzungen ein ganz ungewohntes Bild: Jeweils eine ganze Reihe von ihnen ist auf eine Stimmplatte aus Metall eingelassen. (Bild 5)
Zum Vergleich: Beim Akkordeon hat jedes Stimmzungenpaar sein eigenes Metallplättchen, das mit Wachs eingegossen, auf dem voluminösen Stimmstock ruht. Beim Bandoneon sind dagegen einige Stimmplatten direkt flach auf den Resonanzboden gelegt. Mit kleinen Klemmen werden sie luftdicht angedrückt. Dort, wo doch ein senkrecht stehender Stimmstock gebraucht wird, ist er mit einem Minimum an Holz gebaut (Bild 6) . Das heißt: Ein Minimum an Umweg für die Luft. Alles schwingt und klingt so dicht wie möglich an der Außenwelt. Machen die paar Millimeter Umweg einen Unterschied? denke ich als Laie. Aber ja!
Und – ganz wichtig: es gibt einen Resonanzboden! D.h. die Stimmen ruhen auf einer Holzplatte, die selbst mit dem Klang mitschwingen kann. Beim Akkordeon dagegen sind die voluminösen Stimmstöcke auf eine Metallplatte geschraubt (Bild 7): ein unverwüstlicher, stabiler, aber auch völlig unbeweglicher Boden.
Nach all diesen Vorabinformationen ist es jetzt Zeit für den großen Moment: das Arnold-Akkordeon aus dem Schrank mit den Museumsstücken zu holen (Bild 8)
Auf den ersten Blick: ein schönes Stück, eine weinrote, kleine Augenweide im schlichten Art Deco Stil.
Das Arnold-Akkordeon
Und – wie ist dieses Instrument gebaut? Zunächst einmal: Das Instrument hat keine Registerschalter; es ist im Oktavregister gestimmt, genau wie ein Bandoneon. Ein Blick ins Innere zeigt: Stimmzungen und Stimmstöcke sind original nach Bandoneon-Bauart ausgeführt. Jeweils die ganze Reihe Stimmen liegt auf einer einzigen Stimmplatte, die nicht mit Wachs eingegossen, sondern mit Filzstreifen abgedichtet ist und mit Klemmen angedrückt wird. (Bild 9)
Ansonsten ist die gesamte Bauart akkordeon-typisch, wie ja auch der äußere Eindruck vermuten lässt.
Und nun – große Neugier: Da habe ich es nun vor mir, das „Bandoneon mit Tasten“. Wie klingt es denn nun? Zwar ist es nur ein Museumsstück, das mal gestimmt und überholt werden müsste, aber trotzdem ist es überraschend gut im Schuss. Also: Umgeschnallt und losgespielt!
Das Ergebnis: Überraschend, – und ein bisschen enttäuschend. Was herauskommt, ist kein Bandoneonklang, sondern – ein überaus klarer, präsenter, kräftiger Akkordeonklang! Da setzt sich also die Akkordeon-Bauweise des Gehäuses, des Balges, der Mechanik durch gegen die Bandoneon-Elemente. Also kein Instrument, um eine wehmütige Tango-Improvisation im Stile Piazzollas oder Saluzzis zu spielen. Eher hätte vermutlich ein Akkordeonist in einer Bigband oder einer Tanzcombo der 1930er Jahre seine helle Freude an dieser Klangmaschine gehabt.
Das übrigens, macht mir Robert Wallschläger klar, war wohl auch die Absicht von Alfred Arnold. Ende der 20er Jahre waren Konzertina und Bandoneon in großen Mengen vertreten, in der heimischen Volksmusik ebenso verbreitet wie im internationalen Exportgeschäft. Das Piano-Akkordeon war dagegen eine aufregende Neuheit, gerade erst in der Ausbreitung begriffen: für den Hersteller also ein neuer, interessanter Markt, den es auszutesten galt.
Könnte man dieses Instrument wieder bauen?
Wäre es denn möglich, so ein Instrument wieder neu aufzulegen? Eigentlich gar kein Problem, meint Wallschläger. Er könnte so etwas wieder bauen, vermutlich sogar deutlich unter 5000 EUR würde eines kosten, nötig wären nur mehrere interessierte Kunden. Ein Einzelstück herzustellen, wäre unrentabel, da die erforderlichen Stimmplatten zwar jederzeit lieferbar wären, aber nur in kleiner Serie. Auf jeden Fall will er aber in nächster Zeit das Museumsstück vom Meister Arnold in nächster Zeit generalüberholen, damit es wieder richtig flott spielbar und vorzeigbar ist.
Ein interessanter Fund also. Theoretisch genau das, wonach ich gesucht hatte: Bandoneon-Stimmen in einem Gehäuse mit Piano-Tasten. Nur leider nicht mit dem Klang-Resultat, auf das ich gehofft hatte.
Ist der Traum also ausgeträumt von einem Mischinstrument: „Bandoneonklang im Akkordeongehäuse“? Wie sollte man so ein Zwitter-Instrument zwischen Bandoneon und Pianoakkordeon überhaupt nennen? „Bando-kordeon“ vielleicht? Oder besser „Pian-doneon“?
Hoppla. Gebt doch mal den Begriff „Piandoneon“ bei Google ein. Es gibt einen Treffer! Eine Harmonikawerkstatt am Bodensee preist ein Instrument an, das genau so genannt wird, und verspricht:
„Unser Piandoneon schliesst die Lücke zwischen Bandoneon und Akkordeon: ein Instrument mit der Ausdruckskraft des Bandoneons, aber wie ein Akkordeon zu spielen.“
Der Traum vom sensiblen Bandoneonklang für Tastenspieler hat also noch eine Chance. Auf nach Rorschach am Bodensee!
[Veröffentlicht 2015 im akkordeon_magazin]
FORTSETZUNG IN FOLGE 2
Bandoneonbau in Carlsfeld
Die Gemeinde Eibenstock-Carlsfeld liegt am Rande des erzgebirgischen Musikwinkels: Nachbargemeinde ist Klingenthal, die Heimat der Weltmeister-Akkordeons. Harmonikas baut man hier in Carlsfeld seit bald 160 Jahren. Eine besondere Bedeutung hat Carlsfeld für das Bandoneon: 1911 gründete Alfred Arnold in diesem Ort seine Bandoneonfabrik. Seine Instrumente mit dem Markenzeichen „AA“, dem doppelten A, wurden unter Tango-Musikern zur Legende. Astor Piazzolla widmete diesem Instrument seine Komposition „Tristeza de un Doble A“.
Bandoneonbau in der DDR
Im Lauf der 1950er Jahre wurden die Harmonikabetriebe in Carlsfeld dem VEB Klingenthaler Harmonikawerke zugeschlagen. Nachdem um 1960 die Nachfrage nach Bandoneons und der Export stagniert waren, beschloss die DDR die Einstellung der Produktion in Karlsfeld. Ein Jahr lang wurden noch Harmonikas „auf Halde“ hergestellt. Eines Tages im Sommer 1964 wurden dann alle Mitarbeiter auf dem Hinterhof der Fabrik zusammengerufen, alle halbfertigen Instrumente zu einem Haufen geschichtet und staatsoffiziell verbrannt.
So erzählt man es in Carlsfeld; und das war das vorläufige Ende des Instrumentenbaues in dieser Gemeinde. Fortan wurde für den Maschinenbau gearbeitet. Die Faltenbalg-Elemente, die früher die Instrumente zum Klingen brachten, konnten jetzt als Gleitbahnschützer im Maschinenbau nützlich sein. Ein Sohn Alfred Arnolds, Arno Arnold, ist im hessischen Obertshausen bis heute in diesem Bereich profiliert.
Nach der Wende
Nach der Wende bemühte sich ein Kreis von Enthusiasten, die Bandoneonkultur in Carlsfeld wieder zum Leben zu erwecken. Seit 1993 wird jährlich das „Treffen der Bandoneonvereine“ veranstaltet, zu dem auch renommierte Gastsolisten eingeladen sind.
Seit einiger Zeit gibt es auch wieder eine Harmonikawerkstatt in Carlsfeld: 2006 eröffnete hier Robert Wallschläger seine Meisterwerkstatt für Handzuginstrumente.
© Peter M. Haas,2015 • www.peter-m-haas.de
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