„Sentimiento Gaucho“ und der Triumph der Gebrüder Canaro
Der Tango, so sagt man, kommt aus Argentinien. Nun, da ist zwar etwas dran. Aber nicht zuletzt spricht diese Behauptung für die Bescheidenheit der Bewohner Uruguays. Denn der Tango und seine rasante Schwester, die Milonga, entstanden im Land rund um den Rio de la Plata – – und das ist ein Fluss, dessen Anliegerschaft sich Argentinien und Uruguay brüderlich teilen, Buenos Aires an dem einen, Montevideo am anderen Ufer der Flussmündung.
So stammen viele berühmte Tango- und Vals-Kompositionen keineswegs aus argentinischer, sondern aus uruguayanischer Feder.
Geboren in Uruguay wurde auch eine der wichtigen Figuren des frühen Tango, Francisco Canaro, bevor die Familie mit ihm und seinen Brüdern um 1900 nach Buenos Aires zog. Er begann – arm wie seine Eltern waren – seine musikalische Karriere wortwörtlich als Blechdosenfiedler, kein Witz: Als Heranwachsender bastelte er sich aus einer Konservendose ein geigenähnliches Instrument für seine ersten musikalischen Versuche.
Bald konnte er eine richtige Geige spielen und arbeitete eisern und zielstrebig an seiner Karriere. Er wurde der erste Großunternehmer des Tango. Erst nur Juniorpartner im Orchester des brillanten Roberto Firpo, leitete er bereits 1918 vier eigene Tango-Orchester: In jedem von ihnen spielte einer seiner Brüder mit. Dieses Familienimperium wurde für den Tango in Europa bedeutsam. Denn hier hatte es den Tango bisher nur auf Schallplatten gegeben, solange bis 1925 Canaro mit seinen Brüdern die erste Europatournee unternahm. Paris war hingerissen. Exotisch aus heutiger Sicht: Canaros Musiker traten in Europa im Gauchokostüm auf! Fortan leiteten zwei von Canaros Brüdern Orchester und Tanzschulen in Europa.
So hat Canaro es mit seinen Orchestern und seinen zahllosen Kompositionen geschafft, ein multinationales Tango-Imperium aufzubauen, dessen kommerziell ausgerichtete Intentionen freilich von denen vieler anderer Musiker der Tangoszene abwichen, die eher künstlerisch und weniger geschäftspolitisch orientiert waren. Es wird auch gemunkelt, dass er nicht immer selbst komponierte, was dann seinen Komponistennamen trug. Auch als Geiger soll er lange nicht so brillant gewesen sein, wie er es als Geschäftsmann war.
Wie auch immer – : seine Komposition „Sentimiento Gaucho“ ist ein genial komponierter und sehr effektvoller Tango. Reizvoll ist für uns Akkordeonspieler die Vielzahl der akzentuierten, kurz markierten Dreiklangsgriffe der Hauptmelodie. Diese markant gemeißelte Melodie steht in Kontrast zu einer sanglichen Obermelodie, die in den Orchestern meist von den Geigen dagegengesetzt wird. Es ist der seltene Fall (wie mir ein Blick auf das Original-Notenblatt zeigte), dass solch eine Gegenstimme bereits Bestandteil der Darstellung in der Original-Verlagsnote ist. (Sonst liest man dort immer nur eine Stimme für Klavier solo.)
Aber gut, dass wir hier das Notenblatt haben (siehe Abbildung) – es erinnert uns noch an etwas Wichtiges. Man kann es nicht oft genug sagen: Der Tango ist kein Marsch im 4/4-Takt! Die vier Schläge in jedem Takt, wie sie jeder als Tango-Groove kennt, sind NICHT vier Viertel, sondern vier Achtel, und das bedeutet: der zweite und der vierte Schlag sind deutlich zurückgenommen. Freilich hat die originale und korrekte Schreibweise einen Nachteil: was dem Hörer wie Achtel in der Melodie anmutet, wird als Sechzehntelnote geschrieben; sobald ein Lauf auch nur ein bisschen schneller wird, kommen 32tel ins Spiel. Darum habe ich in meinem Arrangement die Schreibweise augmentisiert, also rhythmisch auf das Doppelte gedehnt; die Tempobezeichnung „2/2“ soll darauf hinweisen.
Im Netz gibt es viele Versionen dieses Stückes. Lasst euch inspirieren!
Die folgende Version ist recht hübsch: Es spielt das Orchester des uruguyayanischen Bandoneonisten und Orchesterleiters Donato Racciatti.